Pädagogische Sternstunden und vertretungstechnische Meisterleistungen - Akt I
Irgendwann in den letzten Wochen des Schuljahres ereilte uns die Nachricht, Frau Mausgrau-Unsichtbar würde unsere Klasse übernehmen. Viele von den Eltern kannten diese Lehrerin nicht, da sie noch keine älteren Kinder in der Grundschule hatten und Frau Mausgrau-Unsichtbar irgendwie auch nicht auffiel, und so holte man sich Informationen von „altgedienten Kennern der Szene“… „Dienst nach Vorschrift, keine Ausflüge, kein Landschulheim, hat bei der letzten Projektwoche (vor 4 Jahren…) als Einzige nichts besonderes gemacht, vom alten Schlag, vermittelt solide Kenntnisse, wenn auch nur das Minimum des Verlangten“ – das war die Bandbreite der Auskünfte. Vielleicht stand unseren Kindern nach zwei Jahren Engagement ja auch einfach mal das Gegenteil zu (damit die Statistik wieder stimmt) und wenn sie solide Kenntnisse vermittelt bekommen, die sie auf die weiterführende Schule vorbereiten, ist es ja vielleicht auch in Ordnung…
Wir hatten keine Ahnung, wie „gut“ diese Vorbereitung für unsere Kinder ausfallen sollte…
Die 3. Klasse begann und wenn man die Kinder fragte, wie Frau Mausgrau-Unsichtbar denn sei, bekam man meistens die Antwort: „Ja, ok…“.
Nach ca. 4 Wochen sagte mein Sohn beim Mittagessen: „Mama, Frau Mausgrau - Unsichtbar kommt immer zu spät in den Unterricht.“ – „Was meinst Du denn mit „zu spät““, fragte ich nach. „Na ja, so 10 Minuten etwa…“ Mein Sohn war bereits sehr gut in der Lage, die Uhr zu lesen, die unübersehbar im Klassenzimmer hing. Den Verdacht, dass in dieser Schule die Lehrer/innen häufig zu spät kommen, hatte ich schon länger, denn wann immer (na gut, fast immer – insb. bei der Vorgänger-Lehrerin ist mir diesbezüglich nichts aufgefallen) ich meinen Kindern etwas in die Schule nachgetragen habe, musste ich feststellen, dass Pünktlichkeit keine große Zierde war an unserer Grundschule…
Angesichts der Tatsache, dass Frau Mausgrau-Unsichtbar gerade damit begonnen hatte, Striche für nicht erledigte Hausaufgaben einzuführen (bei 3 Strichen eine 6…), kam mir folgende Idee in den Sinn, die ich meinem Sohn vorschlug der Lehrerin zu unterbreiten: „Weißt Du was, schlage Frau Mausgrau-Unsichtbar doch folgenden „Handel“ vor: Wenn sie mehr als 3 Mal die Woche zu spät kommt (diese Strichliste müsstet ihr führen), dann wird eine Hausaufgabe gestrichen!“ Zunächst war sich mein Sohn nicht ganz sicher, ob er ihr diesen Handel vorschlagen solle, dann fand er es offensichtlich doch ziemlich gerecht (v.a. im Hinblick auf die Strichliste von Frau Mausgrau-Unsichtbar) und wagte sich vor. Offensichtlich zu weit, denn als er am nächsten Tag nach Hause kam, war er völlig am Boden zerstört, meinte, er sage nie mehr etwas, und Frau Mausgrau-Unsichtbar käme auch nicht zu spät, sie sei ja immer schon im Haus. Ah ja! Das ist natürlich ein nicht zu entkräftendes Argument, gerade auch angesichts der Tatsache, dass die Wege vom Lehrerzimmer zum Klassenzimmer zugegebener Maßen auch extrem weit sind (eine Treppe mit 20 Stufen nach oben). Ich hatte jedenfalls Mühe, meinen Sohn, auf den ich eigentlich wirklich stolz war, moralisch wieder aufzurichten…
Kleiner Exkurs: Das Problem des Zuspätkommens von Lehrerinnen zog sich durch das ganze Schuljahr. Warteten die Kinder an der Tür oder auf dem Gang, um die Lehrerinnen als erstes zu erspähen, bekamen sie eine Strafarbeit. Sie sollten unauffällig in der Klasse warten. War die Zeit für „unauffälliges Warten“ zu lang, gab es wiederum Strafarbeiten…
Wenig später erzählte mir eine Bekannte, deren Sohn vier Jahre zuvor den Unterricht bei Frau Mausgrau-Unsichtbar erleben durfte, dieses Zuspätkommen wundere sie nun allerdings wenig, denn Frau Mausgrau-Unsichtbar begegne ihr immer 5 Minuten vor Acht etwa 6 Kilometer vor unserem Ort auf der Bundesstraße. Dafür kam ihr Sohn aber auch häufig früher nach Hause (etwa um 13.00 Uhr – 13.00 ist eigentlich Schulschluss…).
Ebenfalls am Anfang des Schuljahres wurde unserer Klasse das Merkblatt zu den einzelnen AGs ausgehändigt, wie immer mit einem Abschnitt zum Abtrennen. Schüler Christoph brachte den ausgefüllten Zettel mit in die Schule – leider jedoch ohne den Abschnitt abgetrennt zu haben. Darauf Frau Mausgrau-Unsichtbar: „Das kann ich so nicht annehmen!“ Vermutlich hatte Christoph eine Schere dabei und hätte den Abschnitt gleich abschneiden können, er nahm den Zettel jedoch mit nach Hause, trennte ihn ordnungsgemäß ab und brachte ihn am nächsten Tag wieder mit in die Schule, um ihn Frau Mausgrau-Unsichtbar auszuhändigen. Auch an diesem Tag nahm sie den Zettel nicht entgegen, nun mit dem Hinweis „Heute ist es leider zu spät, die Anmeldungen abzugeben!“
Ach ja, Noten gab es ab der 3. Klasse ja auch! Als nach Herausgabe des ersten Diktates eine Mutter ihr Kind von der Schule, am Klassenzimmer abholte, sah sie ein Mädchen herzzerreißend schluchzen, da sie eine 5 geschrieben hatte. Auf die vorsichtige, wahrscheinlich pädagogisch völlig unqualifizerte Frage der Mutter, ob man nicht vielleicht etwas sachter in die Notengebung einsteigen könne, ob es unbedingt gleich Fünfen geben müsse, meinte Frau Mausgrau-Unsichtbar, das sei nicht möglich; sie könne sich überdies nicht um die Gemütslage jedes einzelnen Kindes kümmern.
Vielleicht gab es noch weitere vertrauensbildende Maßnahmen zwischen neuer Klassenlehrerin und ihrer Klasse, die mir nicht zu Ohren kamen – oder wir hätten noch weitere erlebt, doch dazu kam es nicht mehr, denn eine Woche vor den Herbstferien wurde Frau Mausgrau-Unsichtbar krank, schwerkrank sogar. Obwohl man nichts Genaues wusste, munkelte man nach Ferienende etwas von einem Herzinfarkt…
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2007-06-23
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