2008-02-27

Offener Brief an Baden-Württembergs Kultusminister Rau

Sehr geehrter Herr Kultusminister Rau,



auch wenn ich davon ausgehe, dass Sie schon tausende von Zuschriften erhalten haben werden, möchte ich mich auf diese Weise an Sie wenden, in der Hoffnung, dass diese Zeilen Sie erreichen.



Als betroffene Mutter habe ich vorgestern interessiert die Landtagsdebatte über das Schulsystem in Baden-Württemberg verfolgt und war wirklich erstaunt, über die unterschiedlichen Realitäten, in denen wir leben.



Wir haben drei Söhne die auf ein Gymnasium gehen in den Klassenstufen 5,7 und 9 (also zwei Mal G8 und einmal G9).



Ohne mich loben zu wollen, muss ich feststellen, dass vielleicht alle unsere Kinder, zumindest aber die beiden Jüngeren nicht auf dem Gymnasium wären, hätte ich nicht unendlich viel Zeit in die "Beschulung" zuhause investiert - wäre ich z.B. alleinerziehend und / oder Vollzeit berufstätig.

Sie könnten jetzt natürlich denken: "Wenn sie so viel Zeit investieren musste, sind die Kinder offensichtlich nicht intelligent genug und sollten nicht auf das Gymnasium".


Das ist nun aber nicht der Fall: meine Jungs sind intelligent, nur nicht sehr strukturiert, wie die Mehrzahl der Jungs im Vergleich zu den Mädchen.
Leider kann schon nicht mehr in der Grundschule auf individuelle Förderung eingegangen werden, so dass Kinder, die nicht "stromlinienförmig" sind, werden sie nicht von zuhause aus gefördert, keine Chance haben auf eine Gymnasialempfehlung. Ich kann Ihnen ziemlich sicher im ersten Elternabend der ersten Klasse, wenn ich die Elternschaft sehe, bereits sagen, welche Kinder am Ende der vierten Klasse eine "Bildungschance" haben und welche nicht. Und nicht etwa deshalb weil Letztere weniger intelligent wären als der Rest der Klasse, sondern weil das Elternhaus sie nicht unterstützen kann oder will.



Hat nun ein Kind tatsächlich nach einer stressigen 4. Klasse, in der bei vielen Schüler/innen bereits heftig in Nachhilfe investiert wird (soweit der Geldbeutel es hergibt), die Gymnasialempfehlung erhalten, so fragen sich - insb. Alleinerziehende, aber auch immer mehr Eltern, die keine akademische Ausbildung haben oder beide berufstätig sind, ob sie ihr Kind auf das Gymnasium schicken - weil sie - die Eltern - nicht wissen, ob sie genügend Zeit oder Geld oder Grips haben, um ihre Kinder so unterstützen zu können, dass sie das Gymnasium schaffen...



Und diese Eltern stellen sich zu Recht diese Frage!



In der 5. Klasse unseres 2. Sohnes haben die Elternsprecher eine Umfrage durchgeführt, bei der ein täglicher Elterneinsatz von 30 - 60 Minuten festgestellt wurde; vor Klassenarbeiten potenziert sich dieser Aufwand!



Insbesondere die Sprachen machen den Kleinen das Leben schwer. Bei uns fängt man nach wie vor mit 2 Fremdsprachen (Englisch/ Latein oder Englisch Französisch) an. Viele Eltern wählen die Kombination Englisch / Latein, da bei Latein der Transfer des Schreibens wegfällt.

Während unser 7. Klässer im G 8 noch mit dem Lateinbuch für das G9 arbeitet(e), hat unser 5. Klässer ein neues, auf das G8 zugeschnittenes Lateinbuch. Dort durften die lieben Kleinen sich in der 2. Lektion bereits mit 3 Konjugationen und 5 Deklinationen beschäftigen; die Texte waren ab der 2. Lektion länger als die seines 2 Jahre älteren Bruder...

Auf dem 1. Elternabend schimpfte ein Vater, dass für dieses Unterrichtswerk wohl als Minimalvoraussetzung das kleine Latinum eines Elternteil vonnöten sei, während sich ein paar Eltern verzweifelt als "Nichtlateiner" outeten...



Es trifft an unserer Schule (die nicht als Eliteschule gilt) tatsächlich zu, dass oft wenigstens ein Elternteil studiert hat, dass es wenig Kinder aus "bildungsfernen" Schichten gibt - die sind nämlich bis zum diesem Zeitpunkt schon aussortiert.



Wenn Sie nun gestern wieder betonten, dass das baden-württembergische Schulsystem durchlässig sei, dann muss ich Sie fragen, in welche Richtung?

Es ist wohl wahr, dass die Kinder ganz schnell vom Gymnasium auf die Realschule wechseln können - egal in welcher Klassenstufe, doch ein Wechsel von der Realschule auf das Gymnasium ist, einmal ins dreigliedrige Schulsystem einsortiert - dank G8 - erst nach der 10 Klasse wieder möglich und dann sinnvollerweise nur auf ein technisches- oder Wirtschaftsgymnasium, was bedeutet, dass wir wieder bei 13 Jahren bis zum Abitur sind...

Der bereits anglaufene Trend, Kinder mit Gymnasialempfehlung eher auf die Realschule zu schicken, ihnen mehr Kindheit und den Eltern mehr Zeit zu lassen, wird sich drastisch verstärken!



Das G8 hat die Milieufrage im Hinblick auf Bildungskarrieren extrem zugespitzt!!!



Jetzt frage ich Sie: Brauchen wir schon allein durch die demografische Entwicklung nicht jetzt schon händeringend möglichst viele gut ausgebildete junge Menschen? Warum stellen Sie dann mit dem G8 (so wie es momentan läuft) die Weichen in die Richtung, dass hauptsächlich Kinder der Bildungsbürger an dieser Schullaufbahn partiziperen können? Und wenn Sie mir entgegnen: "Die anderen können ja über die Realschulschule und Aufbaugymnasien auch zum Abitur kommen" - dann frage ich Sie: Wenn hier ein Jahr Schulzeit länger in Kauf genommen wird, wozu dann an den Gymnasien die Reduzierung von 9 auf 8 Jahren?



Das G8, wie ich es momentan in BA-WÜ erlebe, ist weder Kindern, noch Lehrern noch Eltern in dieser Form zuzumuten:
Die Lehrer, v.a. in den Sprachen, kürzen den Stoff um die vertiefenden Elemente, die Eltern versuchen am Nachmittag, am Wochenende und in den Ferien die Vertiefung, die in der Schule nur noch sehr bedingt stattfindet, zu leisten, und die Schüler haben letztlich überhaupt keine Freiräume mehr, in denen sie wirkliche Freizeit haben, in der z.B. soziales Lernen / sozialer Umgang eingeübt werden könnte...




Wenn Sie dieses vermaledeite eine Jahr einsparen wollen (wozu das gut sein soll, ist ohnehin nicht klar), dann müssen Sie auch die Voraussetzungen schaffen:
Das G8 ist dann nur in einer Ganztagesschule möglich, in der durch mehr Unterricht auch wieder Vertiefung stattfindet, in der die Kinder, wenn sie nachmittags nach Hause kommen, größtenteils fertig sind mit der Hausarbeit, in der Eltern entlastet werden und in der v.a. auch Schülern eine Chance gegeben wird, deren Eltern das "Coachingprogramm" nicht leisten können!




Das kostet Geld und spart nicht etwa Geld ein, wie bei einem Jahr Schulverkürzung ohne Nachmittagsunterricht! Aber: von nix kommt nix!!!



Ich war eigentlich immer gegen die Verlängerung der Grundschule, Gesamtschulen und "Gleichmacherei" in der Schulpolitik, aber die Praxis vor Ort lehrte mich umzudenken:



Ich finde die Chancenlosigkeit breiter Bevölkerungsschichten auf gute Bildung UNERTRÄGLICH!!!

Es kann doch nicht sein, dass Bildungschancen von Elternbildung, Elterngeldbeutel und Elternzeit abhängen! Aber genau so ist die Praxis!!!

Wir als Gesellschaft können es uns nicht leisten, so viel "Bildungs-Potential" nicht optimal zu fördern! Um das Überleben unserer (alternden) Gesellschaft zu sichern, müsste der größte Ausgabentopf für Bildung sein.

Und wenn wir alle Bevölkerungsschichten erreichen wollen, geht das nur über Ganztagsschulen! Auch diese lehnte ich immer grundsätzlich ab, aber ich kann meine Augen nicht verschließen, vor Eltern, die ihrer Erziehungsaufgabe nicht gerecht werden, die über Arbeitslosigkeit und Hartz IV keinem geregelten Tagesablauf mehr nachgehen können, vor überforderten Müttern, deren Partner sich längst absetzten und die jetzt mit ihren Kindern schauen müssen, wie sie klarkommen... Wenn sich für deren Kinder etwas verbessern soll, sie nicht in der gleichen Misere wie ihre Eltern verharren sollen, dann müssen in einem strukturierten Tagesablauf die Chance auf Bildung haben - und das geht nur mit Ganztagsschulen!



Aus diesen Erfahrungen heraus, die unendlich viele Eltern auch machen, aus der Verantwortung heraus, auch bildungsferne Schichten an Bildung teilnehmen zu lassen, aus der Sorge heraus, wie eine alternde Gesellschaft aussehen wird, die nicht genügend Junge,v.a. gut ausgebildete Junge hat, die die Arbeit übernehmen sollen, bitte ich Sie und die CDU in Baden Württemberg als regierende Kraft, Ihre Einstellungen zur Bildungspolitik zu überdenken und zu ändern!

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